Lebendige Intelligenz (2)
Evolution hat uns heute an einen Punkt gebracht, an dem wir die Intelligenz, die sie uns mitgegeben hat, dazu nutzen können, sie technisch immer täuschender nach– und in unsere Wirklichkeit zugleich immer machtvoller ein-zubauen.
Künstlich hergestellte Intelligenz lebt nicht in-Zeit, aber sie verleibt sich Zeit ein: unsere Lebenszeit – und wenn wir nicht sehr genau aufpassen, wendet sie eher uns an (unser Denken und unser Sprechen/Hören) als dass wir sie (denkend/sprechend) anwenden. Das Problem dabei ist: Wenn wir die mit ihr erzeugte Wirklichkeit unseren jeweiligen Zwecken gemäß einrichten, sie also kontrollieren wollen, geht es uns wie Sisyphos: immer, wenn wir denken „jetzt hab ich‘s“, rutscht sie uns wieder aus den Händen…
Das Problem, dass Wirklichkeit ungreifbar ist, ist nicht neu; es ist von Anfang an Grundmerkmal der conditio humana: Wirklichkeit bildet das (notwendig unsichtbare) Medium, in dem wir Menschen uns als Denkende/Sprechende wie die Fische im Wasser bewegen. Was heute aber grundlegend neu ist: Erstmals in der Geschichte tritt uns menschliches Denken unabhängig von uns als Individuen und daher scheinbar objektiv in real existierender Form gegenüber.
Das Gehirn rein technisch nachzubauen heißt, es als ein lebloses Ding nicht nur zu betrachten, sondern auch zu behandeln: Man löst es aus seinem lebendigen Kontext, d. h. nicht nur von dem dazugehörigen Körper, sondern auch von der Umwelt, in der dieser agiert.
Der Zustandsraum des lebenden Gehirns befindet sich dagegen in permanenter Emergenz – und die ist bestenfalls navigierbar, aber nicht greifbar/bestimmbar. Denn Emergenz bedeutet, dass das Gehirn fortlaufend nicht nur seine (entropische, permanent zerfallende) Struktur (re)produziert, sondern gleichzeitig (!) auch seine (autopoietische) Organisation (d.h. sich selbst als ein Ganzes).
Als endliche (an Körper und an Sprache gebundene, Raum und Zeit verbrauchende) Wesen können wir beides – ähnlich wie beim Teilchen-Welle-Dualismus – niemals gleichzeitig bestimmen.
In diesem Emergenzraum zu navigieren erfordert ein von Ereignis zu Ereignis „springendes“ und sich in diesem Springen spontan rhythmisierendes Beobachten; das heißt:
Raum (als getaktete Zeit) und Zeit (als fließender Raum) gehen dabei kontinuierlich ineinander über: Raum lässt sich zeitlich dehnen, ohne wirkliche Zeit zu verbrauchen; und Zeit lässt sich wie Raum begehen, ohne wirklichen Raum zu verbrauchen… und dies solange, bis Takten und Fließen, sich gegenseitig nährend, in einem Ereignis (Zeit-Raum) „reißverschlussartig“ ineinandergreifen.
„Die Bewegung verschwindet in ihrem Resultat und lässt keine Spur zurück“ (Marx über die Geld-Form).
Das ist ähnlich wie bei der quantenmechanischen Verschränkung: Ein zusammengesetztes System nimmt nur als Ganzes betrachtet einen wohldefinierten Zustand ein, nicht aber seine Teilsysteme.
„In einem quantenphysikalisch verschränkten Zustand des Systems besitzen (..) die Teilsysteme mehrere ihrer möglichen Zustände nebeneinander, wobei jedem dieser Zustände eines Teilsystems ein anderer Zustand der übrigen Teilsysteme zugeordnet ist. Um das Verhalten des Gesamtsystems richtig erklären zu können, muss man alle diese nebeneinander bestehenden Möglichkeiten zusammen betrachten.“ (Wikipedia)
Was das für die Vorstellungskraft eines in diesem Zustandsraum navigierenden Beobachters bedeutet, lässt sich an einem Tesserakt veranschaulichen (einem Würfel in der vierten Dimension).
Künstliche Intelligenz kann beim Navigieren sehr hilfreich sein; den Beobachter (als menschliches Wesen) kann sie nicht ersetzen. Sie macht immer nur Schnappschüsse.
seltsam – liest das denn niemand?
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