Oder: Was ist der Mensch?
In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant:
„Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen:
1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?“[1]
Später[2] fügt er dann noch eine weitere Frage hinzu:
„4. Was ist der Mensch?“
Die ersten drei Fragen „beziehen sich“, so Kant, auf die vierte Frage. Aber was genau meint das: sich-beziehen-auf?
Ich behaupte, dass Kant hier ein systemisches Sich-Beziehen im Sinn hatte. Er konnte es seinerzeit nur noch nicht begrifflich präzisieren; ihm war klar, dass der ihm verfügbare wissenschafts-paradigmatische Rahmen (das Newtonsche Weltbild) dazu nicht ausreichte; er hätte sich dabei nur in Spekulation verloren.
Diese These muss ich natürlich begründen.
Kant begreift menschliche Existenz als (wie wir heute sagen würden) paradox: Zwischen Naturbegriff (Kritik der reinen Vernunft, erste Frage) und Freiheitsbegriff (Kritik der praktischen Vernunft, zweite Frage) ist „eine unübersehbare Kluft (..) befestigt“, sodass der Eindruck entsteht, es handle sich um zwei völlig verschiedene Welten. Das heißt, beide stehen sich orthogonal gegenüber, setzen sich zugleich aber auch gegenseitig voraus.
Es ist m.E. das große Verdienst Kants, dass er (anders als dann später Hegel und Andere) der Versuchung widerstand, beides voreilig zu einer Einheit zu verbinden, um so die Paradoxie zu unterlaufen.
Kant glaubte sich zur Erwartung berechtigt, dass man es „vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen und es praktischen) bringen, und alles aus einem Prinzip ableiten“ können werde (Kritik der praktischen Vernunft A 162).
Heute – nach Einstein und Heisenberg, nach Ilja Prigogine (irreversible Thermodynamik), nach Gödel, nach Norbert Wiener und nach (dem späten) Wittgenstein – steht der paradigmatische Rahmen dafür zur Verfügung.
Der Kybernetiker, Anthropologe und Kant-Kenner Gregory Bateson konnte daher mit seiner Frage nach dem „Muster, das verbindet“, Kants Thema ganz neu aufgreifen.
Maturana und Luhmann führten das dann mit dem Doppelkonzept Autopoiesis/Beobachter systemisch aus, allerdings aus zwei unterschiedlichen Perspektiven; zu einer gemeinsamen Sprache haben sie leider nie gefunden.
Auf der Suche nach dieser gemeinsamen Sprache lohnt sich eine Rückbesinnung auf (einen systemisch neu gelesenen) Kant.
Mit seinem Begriff der apriorischen Anschauungsformen (Raum und Zeit), seiner Unterscheidung der bestimmenden bzw. reflektierenden Urteilskraft (als dem „Beobachter“) und schließlich der (wie H. Feger sagt) „janusköpfigen“ Einbildungskraft (sie ist „janusköpfig“, weil sie zwischen sinnlicher Anschauung und begreifendem Verstand vermittelt ) liefert Kant die dazu notwendige epistemologische Basis.
[1] KrV A 804 f.
[2] Z.B. in Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen.