Öffnen und Schließen

Zu einer Epistemologie des Lebendigen

Teil I  Organisieren und Verkörpern von Wirklichkeit

Gewöhnlich sind wir uns sicher, Wirkliches von Unwirklichem unterscheiden können. Spätestens, seit wir nicht mehr nur mimetisch denken, sondern auch in Wort-Sprache (vermutlich seit ca. 50 bis 70 Jahrtausenden), erst recht seit Erfindung von Schrift, kennen wir aber auch den Zweifel: Ist das, was sich da zeigt, auch wirklich echt? Oder täuschen wir uns, spielen uns da unsere Sinne einen Streich?  Vielleicht spiegelt uns ja jemand die Form nur mimikryartig, also täuschend ähnlich, vor und wir fallen darauf rein? Etwa so, wie ein räuberisches Insekt die Form einer essbaren Pflanze zeigt, und damit Beute anlockt? Oder, ein anderes Beispiel: wie es Populisten gelingt, Anderen ungedeckte Wechsel auf eine glückliche Zukunft zu verkaufen? In jedem Fall gilt: Wir haben die – täuschende – Form selber hervorgebracht und die Bewegung, mittels der wir das tun, „verschwindet in ihrem eignen Resultat und lässt keine Spur zurück“ (so Karl Marx über die Geld-Form).

Heute, in einer Zeit, in der Künstliche Intelligenzen lernen, sogar Lebendiges immer feiner und somit immer täuschender nachzuahmen, wird die Frage, wie wir Formen hervorbringen, für uns geradezu existenziell bedeutsam. Die alte Frage danach, was eigentlich Denken ausmacht, erscheint heute in neuem Licht, in einem Kontext, bei dessen Erforschung wir erst noch am Anfang stehen. Heute müssen wir uns nicht nur fragen, wie unser (menschliches) Denken sich von dem von Tieren unterscheidet, sondern auch von dem von Artefakten, also künstlich-zweckmäßig zusammengefügter Materie.

Wissenschaft zeigt uns heute, dass und wie wir lebendige Formen (ob Organismen, Bewusstsein oder soziale Systeme) theoretisch und praktisch in immer feiner granulierte Teilchen zerlegen können. Als ein systemisches Ganzes gerät uns die jeweilige Form dabei aber immer mehr aus dem Blick und wir laufen zunehmend Gefahr, uns auf diese Weise die eigene Existenzgrundlage zu unterminieren. Wir müssen heute mehr als je zuvor (wieder) lernen, Lebendiges nicht nur zu zergliedern, sondern es zugleich – und in diesem „Zugleich“ liegt die Schwierigkeit gerade für uns heutige Menschen – auch als unteilbares Ganzes, als Eigen-Form nicht nur zu behandeln, sondern auch so zu denken.    

Als Menschen sind wir hybride Wesen: Wir existieren und bewegen uns wie selbstverständlich in zwei gänzlich inkommensurablen Phänomenbereichen: In einem physikalisch-biologischen, den wir sinnlich erfahren und in dem wir unvermeidlich dem Sog von Entropie ausgesetzt sind – und zugleich (!) in einem aus bloßen Relationen gestrickten, nur geistig vorstellbaren Bereich, der uns befähigt, uns mithilfe von Sprache und Technik eben diesem Sog zu entziehen – und zwar so gründlich, dass wir ihn in der Regel nicht bemerken; er verschwindet scheinbar spurlos in unserem blinden Fleck. Diese Doppeltbestimmtheit ist conditio humana. Menschen haben daher von allem Anfang an – zunächst magische – Techniken und – ebenso magische – Sprache entwickelt, um mit überschießender Komplexität umgehen zu können und den unvermeidlichen blinden Fleck in Denken und Handeln erfolgreich zu integrieren.

Von daher ist uns Menschen Umgehen mit Komplexität und (Re)Produzieren von Eigen-Formen von allem Anfang in die Wiege gelegt.

Im Verlauf der Geschichte haben wir in unser (Re)Produzieren von Wirklichkeit Schritt für Schritt immer mehr Knoten geknüpft. Ab einer bestimmten Stufe der Evolution menschlichen Geistes (seit Erfindung von Wort-Sprache, erst recht seit wir anfingen, nicht mehr magisch, sondern analytisch zu denken) wurde es immer schwerer, sie noch als selbst-geknüpft (wieder)zuerkennen und die Verführung, sie als ontisch gegeben zu unterstellen, wuchs. Wir haben zunehmend „vergessen“, wie und zu welchem Zweck wir die Knoten geknüpft haben, mit und an denen sich das physisch-geistige Netzwerk konstituiert, das wir leben. Wir spiegeln (oder „ahmen“) uns Formen vor, die die Gefahr in sich (ver)bergen, dass wir uns mit ihnen den Boden unter den eigenen Füßen wegziehen.

Vor 400 Jahren unternahm dann R. Descartes den Versuch, den – mittlerweile gigantischen – Gordischen Knoten mit einem Gewaltstreich zu lösen. Damit machte er die Bahn frei für bis dahin ungeahnte, schier unbegrenzte Möglichkeiten der Erweiterung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten, hinterließ uns aber ungewollt und unbemerkt einen noch schwerer lösbaren Knoten.

Lebende Systeme als Eigen-Formen denken und behandeln

Eine Form, die wir mit den Sinnen oder denkend (be)greifen, „zeigt“ einem Beobachter etwas – und zwar auf doppelte Weise (transitiv bzw. intransitiv):
–  Auf der einen Seite zeigt sie ihm etwas AN: (scheinbar) mit sich selbst identische „Dinge“, auf die er aktuell zugreifen und an die er unmittelbar anschließen kann: aus Zeichen (Gesten, Worten, Bildern, Zahlen) konstituierte (Sach-, Zeit- oder Sozial-)Verhalte.  
–  Zugleich zeigt sie für ihn aber immer auch, wenn auch auf verborgene, aktuell nicht greifbare Weise, AUF etwas, nämlich auf ihre Entstehungsgeschichte bzw. darauf, wie er, als tätiger Beobachter, dieses „Ding“ oder diesen Verhalt überhaupt erst hervorgebracht – und das heißt: wie er seine Wirklichkeit organisiert hat.
„Organisieren“ meint die Art und Weise, wie der Beobachter die (physikalischen, biologischen, psychischen und sozialen) Relationen geknüpft hat, die gegeben sein müssen, damit er sie als je spezifische Form, etwa als „Wort“ oder als „Zahl“[1], (wieder)erkennt.

Damit stehen wir allerdings erst einmal vor einer Paradoxie: Beide Seiten setzen sich gegenseitig voraus: Um die Form als ganze sehen zu können, müssten wir beide Seiten gleichzeitig im Auge behalten, was uns – als an Sinne gebundene Wesen – grundsätzlich unmöglich ist: Wenn wir die eine (be)greifen wollen, gerät uns die jeweils andere aus dem Blick. „Dinge“ (Verhalte) sind Knoten, die wir in unser Denken geknüpft haben, um seinen Fluss nicht zu unterbrechen und unmittelbar an uns Zufallendes anschließen zu können. Die Versuchung ist groß, zu vergessen, wie und wozu wir sie geknüpft haben – schließlich (ver)bergen sie die Tricks, mit denen wir überschießende Komplexität technisch und sprachlich in die von uns gewünschte Richtung lenken. Paradoxien treten genau dann auf, wenn wir vergessen haben, nach welchen Regeln und zu welchem Zweck wir Knoten geknüpft haben.

Paradoxien erleben wir gewöhnlich zunächst an der Oberfläche, in Form einfacher Dilemmata, die entweder gar nicht bzw. nur willkürlich (oder sogar gewaltsam) lösbar sind. Ein einfaches Dilemma zeigt sich z. B. in der Form eines Kippbilds: In ein und demselben Bild können wir wahlweise zwei vollkommen unterschiedliche Figurationen markieren (z. B. einmal eine alte und dann wieder eine junge Frau). Eine eindeutige, anschlussfähige Form zu erzeugen ist hier unmöglich; und wenn wir uns fragen, wie wir diese Differenz erzeugen, stehen wir vor einem Rätsel: Ihr Ursprung liegt für uns in unergründlichem Dunkel.

Im Alltag wollen wir vom Rätselhaften unserer menschlichen Existenz meist nichts wissen. Und irgendwie ist das auch gut so; anders könnten wir weder wirkungsvoll noch wirksam handeln. Aber zugleich erzeugen wir mit dem Knüpfen von Knoten immer auch Unbestimmtes und damit überschießende Komplexitäten, die die Grenzen unserer Technik und unserer Sprache auf die Probe stellen. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, sagt L. Wittgenstein im Tractatus. Erst, wenn wir über unsere Ungereimtheiten unseres Denkens stolpern, haben wir die Chance, über unsere Sprache und die ihr immanenten Grenzen nachzudenken.

Mit diesem Text möchte ich Sie einladen, über eingeschliffene Denkformen (seien es meine oder Ihre eigenen) zu stolpern. Ich werde versuchen, (im erwähnten doppelten Sinn) zu „zeigen“, wie sich Lebendiges als Eigen-Form d enken und behandeln lässt. Es geht mir um eine Epistemologie des Lebendigen oder auch „Öko-Logik“, d. h. um eine Logik, der alles Lebendige folgt – ob es sich nun um molekular organisierte Systeme handelt (wie bei der Zelle) oder um sinnvoll-vorstellende (wie bei Bewusstsein) oder sinnvoll-kommunizierende (wie bei Gesellschaft).

Damit stehen wir vor einer der heikelsten Fragen moderner Geistesgeschichte, vor jenem Problem, das Descartes mit seinem Gewaltstreich aus der Welt schaffen wollte: Moleküle sind uns von Natur gegeben, während (Re)Produzieren von Vorstellungen und erst recht von Kommunikationen etwas voraussetzt, was wir in Natur nicht vorfinden: Sinn. Wir stehen hier, wie Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft sagt, vor einer „unübersehbaren Kluft“ zwischen zwei Gebieten, die aufeinander „keinen Einfluß haben können.“

Im Alltag muss uns das nicht kümmern; wie selbstverständlich reproduzieren wir uns als Menschen von allem Anfang an und unhintergehbar in beiden Phänomenbereichen zugleich. Aber: Wie machen wir das? Wie ist das denkbar? Jagen wir mit dem Versuch, das Muster, das alle drei Phänomenbereiche verbindet, vorzustellen und nachvollziehbar zu erklären, nicht einer Chimäre hinterher?

Das verbindende Muster dürfen wir uns nicht als (be)greifbares „Ding“ denken. Vielmehr müssen wir es, wie Gregory Bateson sagt, „primär (was immer das bedeuten mag) als einen Tanz ineinandergreifender Teile“ auffassen „und erst sekundär als festgelegt durch verschiedenartige physikalische Grenzen und durch diejenigen Einschränkungen, die Organismen typischerweise durchsetzen.“[2]

Wenngleich wir diesen „Tanz“ (als an Sinne gebundene Wesen) niemals begreifen/beobachten können, so können (und müssen) wir ihn aber denkend und handelnd als „blinden Fleck“ in unsere Rechnung einbeziehen – stehen dann allerdings erst einmal vor einem Abgrund, der unserem gewohnten binären Denken den Boden unter den Füßen wegzieht:

Lebendige Phänomene als Eigen-Form zu denken, heißt, sie als auto-poietische Systeme denken, d. h. als Systeme, die sich selbst herstellen.

Autopoiesis

Ein autopoietisches System ist definiert als ein Netzwerk der Produktion (und Auflösung) von Elementen, die
(1) durch ihre (blinde) Interaktion rekursiv und fortlaufend das gleiche Netzwerk produzieren, das sie selbst hervorgebracht hat, indem sie…
(2a) dieses Netzwerk als Einheit in dem Raum (Bereich) konstruieren, in dem sie existieren, den sie
(2b) fortlaufend dadurch bestimmen, dass sie seine Grenzen verwirklichen.[3]

Ehe wir uns daran machen, diese in sich selbst zurückkehrende, irgendwie an Münchhausen erinnernde Bewegung denkend zu rekonstruieren, ist es notwendig, erst einmal drei Begriffe zu klären: Element, Einheit und Raum.[4]

„Element“ meint die kleinstmögliche Einheit, an und mit der sich ein System konstituiert, und die es nicht weiter zerlegen kann, ohne sich selbst aufzulösen.
Biologische Systeme konstituieren sich an und mit Molekülen, psychische Systeme an und mit Vorstellungen und soziale Systeme an und mit Kommunikationen.  

„Einheit“ [5] meint generell eine Entität, die durch Operationen der Abgrenzung bestimmt wird, die sie von einer Umgebung abtrennen und ihr charakteristische Eigenschaften zuweisen.
Einheiten lassen sich entweder als einfach (als Elemente) oder als zusammengesetzt beobachten / behandeln.
Wenn wir Einheiten als einfache denken, dann begreifen wir ihre Eigenschaften als konstitutiv und die Frage nach ihrem Ursprung stellt sich nicht.
Wenn wir sie dagegen als (aus Elementen) zusammengesetzt behandeln, dann können wir sie weiter analysieren; als ihr „Ursprung“ gilt dann die spezifische Organisation der Elemente, die die Eigenschaften der Einheit festlegt.

„Raum“ meint den „Bereich der möglichen Interaktionen einer Menge von Einheiten (…), dessen Dimensionen durch die Eigenschaften dieser Elemente festgelegt werden. (…) Jede Definition einer Einheit legt einen Raum fest.“[6]

Der Vorteil dieser Definition von Autopoiesis ist, dass er offenlässt, in welchem Raum System sich als Einheit konstituiert: im molekular organisierten und ver-körperten Raum oder in dem Raum, der durch Sinn organisiert und ver-körpert wird. Damit bleibt auch die Frage nach dem „Muster das verbindet“ offen.

Stellen Sie sich einen Jongleur vor, der versucht, mit seinen zwei Händen drei Bälle gleichzeitig in Bewegung zu halten. Es gibt keine Regel, keinen Algorithmus, den er nur 1 zu 1, Schritt für Schritt, befolgen müsste, um das Kunststück zu bewerkstelligen; er kann sich diese „Regel“ nur selber, als tätiger Beobachter, erarbeiten; und/oder er sucht sich einen Lehrer, der ihm die Regel vor-ahmend „zeigt“, die er dann mimetisch so nach-ahmenkann, dass sie für ihn (!) funktioniert.

Ich will damit sagen: Mit Worten allein lässt sich das verbindende Muster nicht abbilden; denn Worte bilden ja bereits Eigen-Formen, deren Genese sich uns verbirgt. Was sich nicht sagen lässt, kann aber gezeigt werden. Die einfachste Möglichkeit dafür sind Gesten bzw. sprachliche Formen wie Metaphern und Geschichten. Sie sind allerdings beliebig interpretierbar und müssen durch Formen ergänzt werden, die auch intersubjektiv als notwendig und allgemein gültig nachvollziehbar sind: mathematisch (mit mehrwertiger Formenlogik[7]) bzw. mittels Diagrammen. Diagramme bilden keine Objekte ab, sondern Relationen zwischen Objekten.[8] Sie lassen sich daher doppelt beobachten: einmal als nebeneinander angeordnet, als räumliche Muster; und einmal als nacheinander angeordnet, als zeitliche Muster.
„Alles notwendige Denken ist diagrammatisch.“ (S. Peirce)

Ich, als Autor dieses Textes, habe eine Vorstellung / ein Bild von dem Muster entwickelt, mittels dessen wir als tätige, teilnehmende Beobachter die Kluft zwischen unserem physischen und unserem geistigen Bestimmtsein „immer schon“ so überbrücken, dass Wirklichkeit emergiert. Beweisen (wie einen mathematischen Kalkül) kann ich das Muster nicht. Ich kann nur versuchen, Ihnen mit Worten (und den sie spezifizierenden Diagrammen) das, was ich meine, so zu „zeigen“, dass Sie als Leser/in möglichst kompatible Vorstellungen bilden können.

Bis heute liegt Systemtheorie noch in zwei unterschiedlichen Versionen vor, die die die Frage, in welchem Raum System sich als Einheit konstituiert, bereits vorentschieden haben: in dem Bereich, in dem System sich molekular organisiert und verkörpert bzw. in dem Bereich, in dem es sich sinnhaft organisiert und verkörpert. Das Muster, das verbindet bleibt beide Male verborgen.

Um es sichtbar zu machen, schlage ich vor, lebende Systeme gleich welcher Art als Systeme zu beobachten, die sich aus dem Balancieren eines Ungleichgewichts ernähren, das sie fortlaufend durch ihr eigenes Operieren erzeugen: aus der bipolaren Spannung zwischen ihrer (dissipativen) Struktur und ihrer internen Organisation.

Alle lebendige Bewegung bezieht ihre Identität, ihr Mit-sich-selbst-Schritthalten, letztlich aus dem Aufrechterhalten und Abarbeiten der Bistabilität dieser beiden Kräfte.

Das verbindende Muster setzt sich allerdings aus Zufallendem zusammen; System bekommt es niemals direkt zu fassen. Es kann nur versuchen, es fortlaufend und im Blindflug für sich zu rekonstruieren.

Kybernetik – und zwar, wie sich zeigen wird: dritter Ordnung – bildet den dafür geeigneten Blindenstock. Von Moment zu Moment markiert er einen „Weg, auf dem Umwandlungen von Unterschieden übertragen werden.“[9] Den Weg „gibt“ es nicht; er entsteht im Gehen.

Dissipative Strukturen: Ordnung aus Chaos

Wenn wir nach einer Logik fragen, der biologische, psychische und soziale Systeme gleichermaßen folgen, dann müssen wir dazu auf einer Ebene ansetzen, auf der lebendige Formen a) sich klar von nicht-lebendigen abgrenzen lassen, auf der aber b) ihre spezifischen Unterschiede noch nicht zum Tragen kommen. Der Schlüssel dafür ist es, lebende Systeme (gleich welcher Art) als dissipative Strukturen zu betrachten.

Sie bündeln die Impulse, die sie zunächst willkürlich an ihre Nachbarn abgegeben haben, zu einem einheitlichen Impuls (oder Energiepaket) und geben ihn pulsartig an ihre Umwelt ab, wo er dann „dissipiert“, also wirkungslos verpufft. Das System gibt Unordnung nach außen ab, erzeugt aber intern temporär Ordnung.

Auch lebende Systeme können wir als dissipative Strukturen sehen, die aus Chaos Ordnung herausfiltern. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie selbstreferenziell operieren. Sie sind in der Lage, die notwendigen Randbedingungen, ihren Kontext, intern abzubilden und das lebensnotwendige Ungleichgewicht, ihre Spannkraft, immer wieder neu in sich selbst zu erzeugen.

Struktur und Organisation

Das basale Ungleichgewicht lebender Systeme – und damit auch ihre Spannkraft – bildet sich in der Differenz zwischen ihrer
—  dissipativen Struktur (die ihnen fortlaufend – im „Sprung“ von einem Ereignis zum nächsten – zerfällt)
und ihrer
—  autopoietischen Organisation (die sicherstellt, dass System durch allen Strukturwandel hindurch mit-sich-selbst-identisch bleibt).

Struktur meint die Elemente eines Systems (seien es Moleküle, Vorstellungen oder Kommunikationen) und die aktuelle (bzw. fortlaufende) Selektion ihrer Relationen.
Aus Sicht seiner Struktur ist System je aktuell fremd-determiniert und vergangenheits-abhängig. Es kann in jedem Moment immer nur das tun, was es seiner Natur nach tun kann: auf (interne und externe) Impulse blind reagieren und dabei an seinen vorherigen Zustand anschließen.
Strukturen begrenzen zwar die Anschlussfähigkeit eines Systems, ermöglichen sie dadurch aber erst und wirken so an der Erzeugung seiner Organisation mit.

Die Organisation eines Systemsstellt umgekehrt das Erzeugen der Elemente bzw. Prozesse sicher, die eben diese Organisation herstellen. Organisation konstituiert sich aus bloßen Relationen zwischen Elementen.
Aus Sicht seiner Organisation betrachtet ist ein System je aktuell selbst-determiniert und vergangenheits-unabhängig. Es erzeugt Informationen (= Unterschiede, die für es einen Unterschied bedeuten) spontan, aus sich selbst heraus; d. h. es kann Kausalketten unterbrechen und einen Anfang setzen, Ursprung und Quelle seiner selbst sein.
Organisation unterliegt keinem Wandel, existiert nicht in Raum und Zeit; sie ist oder ist nicht. Das System reproduziert sich als Einheit, die von einem Beobachter (der auch das System selbst sein kann) als lebendig (wieder)erkannt und adressiert wird.

Kybernetik und Selbstreferenz

Wenn autopoietische Systeme auch ohne strukturelle Koppelung mit Umwelten nicht denkbar sind, so operieren sie grundsätzlich selbstreferenziell; d. h. ihr Operieren bezieht sich auf einen und speist sich aus einem Kontext, dem sie selbst angehören und den sie selbst (re)produzieren – und zwar im Blindflug. Sie können ihn sich nur Stück für Stück und von Moment zu Moment mit den Sinnen „ertasten“ und kreativ formen. Kybernetik bildet dafür den Blindenstock.

          Kybernetik denkt teleologisch und in Regelkreisen: Sie denkt Bewegung von ihrem Endzweck und ihrem Ziel her und fragt, wie ein System (egal ob Maschine oder Lebewesen) konstruiert sein muss, damit es bestimmte Zwecke realisiert. Dazu benötigt System…
a) ein Sensorium, das die Grenze zur Umwelt des Systems schließt und Unterschiede fest-stellt;
b) ein Motorium, das die Grenze für Zufallendes öffnet und Unterschiede bewirkt; und schließl „SYstem-bildende Kraft (was immer das auch heißen mag), die beides rekursiv und iterativ solange miteinander verknüpft und verbindet, bis der gewünschte Zweck als Eigenwert erreicht ist.

Der letzte Punkt, die „(System-)bildende Kraft“, bildet den blinden Fleck einer rein technisch verstandenen Kybernetik. Es überrascht daher nicht, wenn für Viele „Kybernetik (…) heute als wissenschaftliche Disziplin tot (ist). Die Leute, die sich heute mit Kybernetik beschäftigen, sind (…) Leute, die sich einfach für Technikgeschichte interessieren, für die Ideengeschichte der Technologie.“[1]

Für klassische Kybernetik („Kybernetik erster Ordnung“) mag das gelten. Hier ist die Regel, die den Zweck verwirklicht, bereits in der Struktur (dem Mechanismus) des Systems verkörpert und ein Beobachter beobachtet das Geschehen von außen, wie durch ein Schlüsselloch, d. h. er ist selbst nicht involviert.

Für das Verständnis von (psychischen, sozialen, organischen) Systemen ist teleologisches Denken dagegen unverzichtbar. Lebende Systeme sind kognitive Systeme: Sie erzeugen ihre Unterscheidungen von innen, indem sie Kognition (Unterschiede erkennen) und Volition (unterschiede bewirken) unterscheiden und beides – Zufall einbeziehend – rekursiv solange verknüpfen und verbinden, bis anschlussfähige Eigen-Formen emergieren. Heinz von Foerster spricht daher von Kybernetik zweiter Ordnung: Es geht nicht mehr um das Beobachten kybernetischer Systeme, sondern umgekehrt um eine Kybernetik beobachtender Systeme – das System bezieht den Standpunkt oder Kontext, von dem aus es jeweils beobachtet (und damit seinen blinden Fleck) in sein Beobachten „immer schon“ mit ein. 
          Die große Frage lautet, ob bzw. wie auf diese Weise auch die Emergenz verbindender (Meta)Muster sichtbar und greifbar gemacht werden kann. Wie kann System das Balancieren seines Ungleichgewichts so balancieren, dass es zufallende Impulse „surfen“ und sich so fortlaufend aus eben diesem Ungleichgewicht „speisen“ kann?

System muss hier Entscheidungen treffen, die (wie Heinz von Foerster sagt) „nie zuvor entschieden wurden“; d. h. es muss
a) Regeln formen, die keiner bereits bekannten Regel folgen – außer der, dass sie den laufenden Zerfall seiner Struktur kompensieren können; und
b) Zwecke formen, die keinem irgendwie bestimmtem Zweck dienen – außer dem, seine (autopoietische) Organisation zu bewahren.  

          Um (System-)bildende Kraft zu entfalten, muss System in der Lage sein, sich selbst als Beobachter zu beobachten.

          Es liegt nahe, sich das als ein Beobachten des Beobachten des Beobachtens… zu denken. Aber damit geraten wir in einen unendlichen Regress; wir bekommen keinen festen Boden unter die Füße bzw. nichts (Be)Greifbares in die Hände; wir verfehlen Gegenwart, Wirklichkeit. Wenn der Beobachter nach anschluss-fähigen bzw. -sicheren Formen sucht, wird er immer wieder auf sich selbst als Beobachter zuückgeworfen.

          Es fragt sich daher, wie System sich in Gegenwart als Beobachtenden Beobachten kann. Schließlich landet es damit in einer scheinbar ausweglosen Paradoxie: Gegenwart „gibt“ es nicht; sie bildet sich erst in der Unterscheidung Vorher/Nachher; um Vorher/Nachher unterscheiden zu können, muss er zuvor aber bereits Gegenwart unterschieden haben. 

          Aus Sicht Luhmanns, der mit binärer Formen-Logik (markierte / nicht markierte Formen) arbeitet, ist das Dilemma vielleicht praktisch lösbar, nicht aber theoretisch. Luhmann schreibt daher: „Mit einem laufenden Wechsel der Perspektiven ist der Beobachter, der diesen Wandel mit der Unterscheidung vorher/nachher vollzieht, (….) nicht zu fassen. (…) der letzte Beobachter ist nicht zu identifizhieren.“ Und „Gott“ – als letzte Instanz der Erkenntnis – ist bekanntlich tot.

Wir brauchen hier einen Beobachterbegriff, der binär (schematisch) und gleichzeitig (!) nicht-binär (gefühlt zweckmäßig) operiert. Der Beobachter / das beobachtende System kann dann so operieren, dass er stets „mehr Möglichkeiten“ für Entscheidungen zur Verfügung hat (Heinz von Foersters „ethischer Imperativ“) – er wird zum tätigen (!) Zeugen der Emergenz von Wirklichkeit.

Um den Weg, auf dem System seine Dysbalance System-bildend balanciert, in Form von Regelkreisen „zeigen“ zu können, müssen wir drei Formen von Selbstreferenz unterscheiden: basal, reflexiv und reflektiert-reflexiv.[3]

Basale Selbstreferenz meint, dass die Elemente eines Systems das Netzwerk, das sie hervorbringt, in blinder Interaktion erzeugen und sich dabei ausschließlich auf andere Elemente des gleichen Systems beziehen. Um Zufallendes in sein Formen einbauen zu können, muss System daher grundlegend ein Innen und ein Außen unterscheiden – ohne damit beides aber schon prozessual verbinden zu können – Formen bleibt sozusagen „in der Schwebe“.
Reflexive Selbstreferenz meint, dass System sein Prozessieren auf sein eigenes Prozessieren bezieht, um Vorher und Nachher (und damit Gegenwart) unterscheiden zu können – ohne sich damit aber schon auf sich selbst als komplexe Einheit zu beziehen.
Reflektiert reflektierend versucht System, sich in einer unkontrollierbaren Umwelt als komplexe Einheit zu behaupten; es entfaltet (System-)bildende Kraft.

Statt von (System-)bildender Kraft spreche ich – im Anschluss an Kants Erkenntnistheorie – im Folgenden auch von EinBILDungsKraft.

Basale Selbstreferenz

System ist für die Interaktion seiner Elemente blind. Es kontrolliert sie nicht, weil es an das gebunden ist, was ihm je aktuell zu-fällt. Wenn es versuchte, Zufall zu kontrollieren, zer-fiele es. Um Eigen-Formen bilden zu können, muss es daher grundsätzlich in der Lage sein, intern eine eindeutige Grenze zwischen Außen und Innen zu ziehen:

–  Wenn es die Grenze schließt, kann es fest-stellen, was IST bzw. was NICHT ist (Kognition) und dessen Ursache einem Außen zuschreiben.
–  Wenn es die Grenze öffnet, kann es entscheiden, was SEIN SOLL bzw. was NICHT sein soll (Volition) und die Ursache sich selbst zuschreiben.

Für System wäre es tödlich, wenn es die Grenze willkürlich zöge: Es kann Öffnen und Schließen nicht gleichzeitig fokussieren; auf dem Weg von einem zum anderen und zurück kann es immer nur von einem Fokus zum anderen „springen“. Das heißt, es müsste immer wieder vollkommen neu beginnen, also ohne an vorher erworbenes Wissen und an vorher erworbene Fähigkeiten anknüpfen bzw. ohne wissen und kontrollieren zu können, wohin es jeweils als nächstes springt. Das System ist ständig in Gefahr, daneben zu springen. Es muss Bilden von Grenzen in der Schwebe lassen.

Reflexive Selbstreferenz

Um verlässliche Grenzen zwischen Außen und Innen bestimmen zu können (und nicht immer wieder daneben zu springen), muss System Vorher und Nachher unterscheiden und dabei Zufall in sein Operieren integrieren. Das kann es nur, wenn es auf zwei unterschiedlichen Wegen gleichzeitig operier: binär (schematisch) und nicht-binär (gefühlt-zweckmäßig, ästhetisch)

Binär zu operieren (1 -> 2 -> 3) meint, dass System die Elemente seiner Selbstkonstitution fest koppelt. Es kann dann Knoten knüpfen und Karten zeichnen. Mittels Karten „erinnert“ System virtuelle Vergangenheiten, sodass es je aktuell bestimmen kann, was IST bzw. NICHT ist.

System kreiert so grundsätzlich die Möglichkeit von Beobachtungszeit oder Eigen-Raum: Es taktet den Übergang von einem Beobachtungs-Fokus zum nächsten. Takt markiert eine (zeitlich-räumliche) Spanne zwischen Fokus und Fokus, lässt dabei aber beliebig bestimmbare (nicht markierte) Leerstellen. Er erzeugt das Potential, System im Außen zu verorten und „Dinge“ zu greifen, d. h. Sach-, Zeit und Sozial-Verhalte.
Aber reinem, noch unbestimmtem Takt fehlt dazu die „Melodie“, das Fließen. Reiner, inhaltloser Takt greift ins Leere, die Dinge zer-fließen, bleiben tot.
In Beobachtungszeit assimiliert System Irritationen (i. S. von Piaget) und dissipiert den „unverdaulichen“, nicht verwerteten Rest nach außen, um aktuell wieder neu an sich selbst anzuschließen.

Nicht-binär zu operieren (1´ -> 2´ -> 3´) meint dagegen, dass System seine Elemente lose koppelt. Es kann dann seine Knoten jederzeit wieder auflösen und Bilder zeichnen. Im Prozessieren selbst-ähnlicher Bilder orientiert System sich auf virtuelle Zukünfte, sodass es je aktuell entscheiden kann, was SEIN bzw. NICHT sein soll.  

System konstituiert so grundsätzlich die Möglichkeit von System-Zeit oder Eigen-Zeit. Es rhythmisiert den Übergang von einem Fokus zum nächsten. Rhythmus formt ein bruchloses, „melodisches“ Fließen-in-Raum-und-Zeit von einem Fokus zum nächsten; er besitzt das Potential, Leerstellen mit Leben zu füllen.

In Systemzeit akkommodiert System seinen Zustand (i. S. von Piaget), d. h. es selegiert – gefühlt zweckmäßig – passende Informationen und scheidet Unpassendes wieder aus, um weiter an sich anschließen zu können.

Bloßem Fließen, d. h. ungetaktetem, noch unbestimmtem Rhythmus, fehlt aber das (Be)Greifen.

Aus Sicht reflexiver Selbstreferenz bleibt das Muster, das verbindet in Schwebe; System kann Zufallendes so nicht surfen und daher nicht fortlaufend das Ungleichgewicht reproduzieren, aus dem es sich speist.

Um sich den Regelkreis als ganzen (binär / nicht-binär) anschaulich zu machen, kann man sich vielleicht einen Salamander vorstellen, der vorbeifliegenden Insekten auflauert. Wenn nun sein momentaner Zustand irritiert wird, (wieder-)erkennt er instantan ein vorbeifliegendes Objekt als Beute. Wie er das macht, bleibt zunächst noch offen.

Für Leser/innen, die sich die Zeit nehmen wollen, das genauer zu prüfen (was sich für ein tieferes Verstehen empfiehlt), will ich das im Folgenden anhand des Diagramms im Einzelnen zeigen.

Binär operieren im Einzelnen

-> 1  Aktuell öffnet System die Grenze. Mit den Sinnen (also tastend, hörend, sehend usw.) erfährt es Zufallendes (Ereignisse) als Impulse, die seine Struktur irritieren. Es konfirmiert / bestätigt, was aktuell „der Fall“ ist, indem es Irritationen nach einem (vorgegebenen) Schema räumlich nachzeichnet („figuriert“). Dass es dabei aktuell Zeit verbraucht (-> 3), muss es ignorieren, in den blinden Fleck verschieben, um in wechselnden Kontexten unmittelbar anschließen zu können.

-> 2  Virtuell schließt System Grenzen und ordnet Ereignisse nebeneinander an: Es verdichtet (konfiguriert) das Gezeichnete virtuell zu Karten, die Zeit einfrieren und anhand derer es sich im Raum orientiert.
Karten bilden das Medium für das „Erinnern“ virtueller Vergangenheiten. Kognition funktioniert hier mimikry-artig oder (mit Wittgenstein) „als Kontrolle dessen, was vergangen ist und Gleichheit“.[1] Indem es Vergangenheit „erinnert“, konstruiert System Raum; d. h. es grenzt den Raum, den es als Körper einnimmt (und der es ist), virtuell von dem Raum ab, den es nicht einnimmt (und der es nicht ist) – und (re)konstruiert so das Netzwerk als Einheit in dem (Möglichkeits-)Raum, in dem es existiert.
Karten organisieren Potentiale für effektives Anschließen an den vorherigen und „Springen“ zum nächsten Moment. „Effektiv“ meint: Sie sind raum-sparend konstruiert, sie bilden räumlich kohärente Muster, sodass Anschließen und „Springen“ weniger Krafteinsatz erfordern.

So kann es

-> 3  aus eigener Kraft (mit eigenen Mitteln, autark) bestimmen (spezifizieren, bekräftigen), was aktuell wirklich IST: Es konstituiert(potentiellen) Beobachtungszeit oder Eigen-Raum und wird so sein eigener Schrittmacher oder Taktgeber. Ähnlich wie der Generalbass oder wie eine Trommel gibt er ein (modifizierbares) Grundrauschen vor und hält einen imaginären Raum offen, den System dann nicht-binär operierend (à Systemzeit) mit Inhalten (mit „Leben“) füllen kann. Beobachtungszeit alleine für sich genommen ist wie ein Rhythmus, dem die verbindende Melodie fehlt, die das Fließen von Moment zu Moment erst erlebbar macht.

Im wahrsten Sinn „entscheidend“ fungiert hier der Regelkreis ( -> 1 -> 3´ -> 1), also (-> Öffnen -> Schließen -> Öffnen) – im blinden Fleck binären Operierens (!).

Es geht hier um Ökonomie des je aktuell verfügbaren Raums; sie funktioniert additiv-subtraktiv[2], d. h. wenn irgendwo etwas weggenommen wird, muss woanders etwas hinzugefügt werden. Um seine Struktur reproduzieren und als abgrenzbare Einheit mit Umwelten resonieren zu können, bildet System Formen so, dass die Zahl markierter Impulse maximiert wird und aktuell verfügbarer Raum optimal genutzt werden kann (Beispiele: Bienenwabe oder Benard-Strukturen). Der Aufwand an physischer Kraft minimiert sich, die potentielle Wirkung maximiert sich: Bewegung wird effektiv / wirkungsvoll, d. h. keine Bewegung dissipiert wirkungslos.
System „sammelt“ Kraft, es baut Potential auf für den Sprung in Unbekanntes / Unbestimmtes
.

Beispiel: Wenn Blattgrün Sonnenlicht absorbiert, entsteht im Pflanzeninneren ein Unterdruck, der als Sog wirkt und das lebensnotwendige Grundwasser – entgegen der Schwerkraft – nach oben zieht. Auch am Aufrichten beim menschlichen Gehen lässt sich das studieren.

Kant, der (auf bis heute gültige Weise) darüber nachgedacht hat, wie der urteilende Verstand (der Beobachter, wie wir heute sagen würden) mittels Einbildungskraft die notwendigen Schemata bildet, schreibt: Der „Schematismus unseres Verstandes (…) ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.“[3] Für Kant spielt die Einbildungskraft also die entscheidende Rolle: Sie gibt dem Begriff ein Bild, ohne das der Verstand nicht arbeiten kann.

Nicht-binär operieren im Einzelnen

->  1‘  Virtuell öffnet System die Grenze. Mit den Sinnen erfährt / „spürt“ es Ereignisse als Impulse, die seine Organisation irritieren / gefährden. Es  ordnet sie zeitlich nacheinander an und transformiert sie gefühlt-zweckmäßig als Muster in eine assoziative, endlose Folge selbstähnlicher Bilder, konstruiert virtuelle Zukünfteund damit potentielle Autonomie. So kann es

-> 2‘  (immer noch virtuell) konkrete Zwecke formen und bestimmen, was wirklich werden soll. Kognition operiert hier im Modus mimetischen Anschließens oder, mit Wittgenstein, „als Quelle des Begriffs der Vergangenheit und Gleichheit“.[4]
Indem System schließlich…

-> 3‘  je aktuell seine Grenze spezifiziert / verwirklicht, bleibt es für einen Beobachter (der das System auch selbst sein kann) über die Zeit hinweg als mit-sich-selbst-identisch (wieder)erkennbar (und von anderen Identitäten unterscheidbar). Es konstituiert Gegenwart, System-Zeit oder Eigen-Zeit. Es wird sein eigener Zeitgeber.

„Entscheidend“ ist hier der Regelkreis  (-> 3‘ -> 1 -> 3‘), also (-> Schließen -> Öffnen -> Schließen). Er verläuft allerdings nicht zwingend im blinden Fleck: Lebende Systeme mit Nervensystem (insbesondere mit Gehirn) sind grundsätzlich in der Lage, Unterschiede zu fühlen.

Autopoietische Systeme (selbst noch das einfachste System, die Zelle) lassen sich grundsätzlich als kognitive Systeme begreifen; sie berechnen ihre Informationen kin-ästhetisch, d. h. indem sie sich – in Eigenresonanz – selbst berühren.
Die Fähigkeit, Eigenresonanz auch zu fühlen, ist eine evolutionäre Errungenschaft, die daran nichts grundsätzlich ändert; Fühlen bildet lediglich eine (allerdings folgenreiche) Erweiterung von Selbstberührung / Selbstresonanz: Es ermöglicht Systemen, autonom Werte zu bilden, anhand derer sie – im freien Spiel von Bewegen und Erkennen – Intensität und Richtung ihrer Bewegung entscheiden. Fühlen von Lust/Unlust funktioniert dabei wie der (mehr oder weniger sensible) Zeiger einer Balkenwaage; es zeigt dem System, ob es mit seinem momentanen Operieren seinen momentanen Zusammenhalt entweder stärkt oder schwächt. [5]

Es geht hier um Ökonomie der je aktuell verfügbaren Zeit – Ökonomie der Information, d. h. System fraktioniert sein Formen, um Bahnen zu planen und Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. [6] Um seine Organisation zu bewahren und mit sich selbst als abgrenzbare Einheit resonieren zu können, bildet System Formen so, dass die Zahl imaginierter Impulse maximiert wird. Es maximiert seinen Wirkungsgrad, d. h. es operiert effizient / wirksam, minimiert Reibungsverluste (Beispiel: die Flugbahn eines einzelnen Vogels im Schwarm).

Zwischenfazit

In Gegenwart haben binäres und nicht-binäres (ästhetisches) Operieren wenn überhaupt, dann bestenfalls zufällige, nicht greifbare Schnittpunkte. So wie die Katze spielerisch ihrem Schwanz hinterherjagt, ohne ihn je zu erreichen, so versucht auch das System, seinen blinden Fleck zu greifen – was ihm aber in reflektierend/reflektierter Selbstreferenz allein nicht gelingt. Um binäres und ästhetisches Operieren bruchlos-fließend verbinden und anschlusssichere Eigen-Formen bilden zu können, müsste System sein Wechseln zwischen Schließen und Öffnen in Einem takten und rhythmisieren und sich auf sich selbst

Beim Versuch, Takt und Rhythmus, Eigen-Raum und Eigen-Zeit zur Einheit zu verbinden und so eine Grenze zwischen Innen und Außen aufrechtzuhalten, ist System ständig in Gefahr, entweder unter– oder über-zusteuern. Es geht ihm wie Odysseus bei seiner legendären Passage zwischen dem Schlund der Charybdis und den Zähnen und Klauen von Skylla:  Auf der einen Seite droht ihm die Gefahr, von seiner Umwelt verschlungen zu werden; auf der anderen Seite läuft es Gefahr, sich zu isolieren und sich in sich selbst festzufressen.

Es genügt nicht, wenn System Wirklichkeit allein aus sich selbst heraus organisiert und ver-körpert; es kann Wirklichkeit nur in Resonanz mit seinen Umwelten verwirklichen.

Darauf gehe ich im Teil II dieses Artikels ein.


[1] L. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen II § 19. Hervorhebung nicht im Original.

[2] G. Bateson a.a.O., S. 592.

[3] Kritik der reinen Vernunft, B 181.

[4] L. Wittgenstein a.a.O. Hervorhebung nicht im Original.

[5] Gefühltes Selbstberühren setzt das Vorhandensein eines zumindest einfachen Gehirns voraus. Lebewesen mit einfachem Nervensystem entscheiden reflexartig. Bei lebenden Systemen ohne Nervensystem „entscheiden“ allein chemische oder physikalische Prozesse.

[6] G. Bateson a. a. O.


[1] Rid, T.: Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik. Berlin 2016.

[2] Luhmann, N.: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1995, S. 210.

[3] Vgl. hierzu auch N. Luhmann (1984): Soziale Systeme, S. 600 ff. Frankfurt/M.

[1] „Was ist eine Zahl, dass ein Mensch sie kennen kann, und ein Mensch, dass er eine Zahl kennen kann?“ fragte sich Warren McCulloch, einer der Väter der Kybernetik und der Theorie künstlicher neuronaler Netze.

[2] Bateson, G. (1982): Geist und Natur. Frankfurt/M., S. 22.

[3] Ich folge hier im Wesentlichen Maturana (1982), S. 148, 245 und S. 280. Für Maturana bilden Psychisches und Soziales allerdings keine Systeme. Zudem spricht er nicht von Elementen, sondern von „Bestandteilen“.

[4] Diese Begriffe haben es „in sich“; für mit Systemtheorie nicht vertraute Leser werden sie sich möglicherweise nicht auf Anhieb erschließen.

[5] Sh. hierzu H. Maturana (2000): Biologie der Realität, Frankfurt/M., S. 99.

[6] a. a. O., S. 101.

[7] Peyn, R (2017): uFORM iFORM, Heidelberg.

[8] Krämer, S. (2009): Operative Bildlichkeit, Bielefeld.

[9] G. Bateson, a.a.O. S. 590.

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